Dieser Mythos ist auf „allen Seiten“ beliebt, bei Befürworterinnen, Gegner, Pionieren, Traditionalistinnen, usw. Für die Einen sind fresh expressions of Church (fxC) nicht ernst zu nehmen, weil sie anscheinend nur auf Innovation zielen. Ohne grosse Reflexion wird der Vorwurf erhoben, dass fxC und deren Vertreter/innen Tradition ignorieren, wenn nicht gleich verachten. Für die andere Seite sind fxC eine gelungene Möglichkei möglichst konstruktivistisch ihre eigene Linse auf Ekklesiologie, Theologie, Gemeinschaft und so auf fxC zu legen. Für die Dritten sind fxC die (Er-)Lösung von Tradition (und manchmal auch Konvention), um dann doch wieder fxC als Modell zu begreifen und in die eigene theologische Form zu pressen. (Meint ja nicht ich nehme mich aus dieser Aufzählung einfach heraus)
Meine Beobachtungen in den fxC innerhalb der Church of England haben mir gezeigt, dass genau in der Balance zwischen Wertschätzung von Tradition und Innovation die Stärke der Bewegung liegt. Pionierinnen und Pioniere spielen nicht das Eine gegen das Andere aus, sondern sehen beides als wichtige Ressource für eine sich ständig erneuernde Kirche.
Der Begriff fresh expressions of Church schliesst zuerst einmal ganz konventionell am Vorwort des Ordinationsgelübdes an. Er verweist auf ein Versprechen und eine Tradition, die es in der Church of England schon lange gibt. Hier ist der Originaltext:
„The Church of England is part of the One, Holy, Catholic and Apostolic Church worshipping the one true God, Father, Son and Holy Spirit. It professes the faith uniquely revealed in the Holy Scriptures and set forth in the catholic creeds, which faith the Church is called upon to proclaim afresh in each generation.“
Was sich während der fünf jährigen Forschung wiederholt gezeigt hat ist, dass fxC und deren Menschen gelernt haben Tradition zu re-interpretieren und zu re-kontextualisieren. Verglichen werden kann das beispielsweise mit dem Jazz-Spiel. Nur wer die musikalischen Basics beherrscht kann beginnen mit der Musik zu „spielen“ die Töne zu interpretieren und zu einer guten Improvisation gelangen. Das Zusammenspiel von Tradition und Innovation in den fxC funktioniert ähnlich. Nach der Analyse von 260 Seiten meiner Interviewtranskripte und 3000 codierten Stellen zeigt sich immer dasselbe: Tradition + Kontext = Innovation. Gute kirchliche Innovation braucht beides Liebe und Verwurzelung in der Tradition und Offenheit und Veränderungsbereitschaft für und mit dem Kontext. Hier ein kleiner Auszug aus der Diss (Vgl. S. 216-217) mit zwei Aussagen aus den Experteninterviews:
„In Bezug auf die Frage nach dem Kontext stellt sich bei der Analyse der Interviews
eine spannende Gleichung heraus. Diese wird in den Interviews zwar
unterschiedlich formuliert, führt jedoch immer zum folgenden Verständnis: Tradition
+ Kontext = Innovation. Die Interaktion von Kontext und Tradition kann
als ein entscheidendes Merkmal für die Entstehung von Innovation angesehen
werden: «So it’s the engagement between tradition and context, will give you some the
measure of the level of innovation that is necessary, in order to bring the
tradition into the context.» Oder: «I suppose you could almost argue that
innovation is tradition in a new context.»“
Der nächste Mythos wird sich mit dem Unterschied zwischen Tradition und Traditionalismus befassen – das schliesst so schön an dieses Thema an.