Ich lernte die scheue, sensible, aufgestellte und introvertierte Angelika an der Universität kennen. Ihre ruhige und freundliche Ausstrahlung waren es, die mich vor 15 Jahren veranlassten die junge Frau im Aufenthaltsraum der Theologischen Fakultät anzusprechen. Angelika schaute mich überrascht an, als ich sie fragte, ob sie mit mir ein Lern-Team bilden wolle um Hebräisch und Altgriechisch zu lernen.
Aus dem ersten Kontakt im Foyer entwickelte sich ein eingespieltes Team und eine tiefe Freundschaft. Angelika wurde für ein paar Monate meine WG-Kollegin, und es entstand eine Beziehung, die durch Hochs und Tiefs ging. 2004 schrieb Angelika auf meiner Geburtstagskarte:
„Ich bi dankbar und froh, dörf ich dich känne
und find eusi Fründschaft uh wertvoll. Ich ha di gern, Angelika“.
Angelika studierte mit mir Theologie, wollte Pfarrerin werden, engagierte sich in Kirche und CVJM/F. Sie war eine hilfsbereite, sensible und mitfühlende junge Frau. Nie zuvor und nie mehr seither habe ich eine Person kennen gelernt, die so empathisch war und bei der man sich so verstanden fühlte wie bei ihr. Angelika hatte aber auch „Biss“, sie war hartnäckig mit grossem Durchhaltevermögen, aktiv, sportlich, unternehmungslustig, eine gute Köchin und gerne draussen in der Natur unterwegs. Sie bestieg den Kilimanjaro, rannte auf 4000er und joggte mit mir im Schneesturm um die Wette. Sie war häufig aufgestellt – zumindest nach aussen hin. Dieses Bild von Angelika kannten viele Personen, so war sie. Doch dies war nur eine Seite ihres Seins. Die andere Seite, die traurige und depressive kannten wenige. Wer kannte ihren Selbsthass? Sah die Narben der Selbstverletzungen? Hörte ihr Kotzen auf der Toilette? Wer ausser ihrer Therapeutin und mir wussten darum? Angelika hatte zwei „Seelen“ in sich. Eine öffentliche aufgestellte und eine verborgene verzweifelte.
Woher diese monströse Menge an Selbsthass in Angelikas Leben kam, weiss ich bis heute nicht. Ich habe meine Vermutungen, aber keine Sicherheit. Beispielsweise wurde mir erst durch die Freundschaft mit Angelika bewusst, wie tief traumatisierend Mobbing sein kann. Die sensible Angelika war über 12 Jahre lang, die ganze Schulzeit, ein Mobbingopfer. Bis dahin war mir nicht bewusst, wie grausam und brutal Kinder sein können. Wie eine ganze Klasse eine einzelne Person über Jahre täglich quälen kann. Angelika war eine Meisterin darin Velopneus zu flicken, weil ihre täglich zerstochen waren. Sie war es gewohnt zu schweigen, wenn sie gequält wurde. Ihre Normalität als Kind war es in der Pause alleine zu sein, alleine auf dem Pausenplatz, oder alleine in der Toilette, da konnte weniger passieren. Bis heute verstehe ich nicht, wie Eltern und Lehrpersonen da nur zuschauen konnten – aber das ist nur meine Aussenperspektive, das sind meine Fragen, das ist meine Empörung, wenn sich niemand für ein Opfer einsetzt.
Unter welchem Krankheitsbild Angelika gelitten hat ist rückblickend schwer zu sagen, dazu wusste ich damals zu wenig, dazu ist es jetzt zu lange her. Meine Vermutung ist, dass Angelika atypisch bipolar war. Hätte etwas gemacht werden können, wenn das „a“ nicht vor dem typisch gewesen wäre? Der Suizid, der „glückte“, war nicht ihr erster Versuch. War es wohl der zweite oder dritte? Ich weiss es nicht mehr. Sie war sicher schon einmal deswegen ins Spital eingeliefert worden, das war aber bevor ich sie kennengelernt habe.
Reflexionen
Würde ich Angelika in der Uni wieder ansprechen, wenn ich gewusst hätte, wie diese Freundschaft endet? Wahrscheinlich schon. Trotz allem. Ich habe dadurch nicht nur eine tiefe Freundschaft gewonnen (und wieder verloren), sondern konnte auch miterleben, wie eine scheue introvertierte Person langsam auftaute und aufblühte. Zudem habe ich durch Angelika vieles gelernt und ein besseres Sensorium und Verständnis für „Aussenseiter/innen“ bekommen. Dies hatte Konsequenzen für meine Lehrtätigkeit in Schule und Pfarramt. Mobbing wurde sofort angesprochen und auf keinen Fall in meinem Unterrichtssetting geduldet. Mobbing ist für Betroffene eine massive psychische Belastung, die traumatische Folgen haben kann. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht in meiner Rolle Vertrauens- und Autoritätsperson dem Mobbing unter Kindern und Jugendlichen ein Ende zu setzen.