totsächlich #3 Abreise mit Sicherungsnetz

In unserer Freundschaft hatte ich Angelika schon einmal dazu gebracht, mir alle Tabletten, die sich bei ihr angesammelt hatten, auszuhändigen. Das tat sie. Doch ihre Psychiaterin hatte anscheinend keine Bedenken, ihr immer mal wieder mehr beruhigende, stabilisierende, schlaffördernde Medikamente zu verschreiben. Was Angelika beruhigen sollte, beunruhigte mich zutiefst. Innerlich rang ich damit, überlegte mir, diese Therapeutin zu kontaktieren und vertraute schlussendlich doch darauf, dass sie wusste was sie tat.

Trotz den psychischen Ups and Downs waren Angelika und ich häufig unzertrennlich. Wir lachten viel und hatten Spass, einige Male holte nicht nur ich sie, sondern auch sie mich aus der Scheisse – eine Hand wäscht die andere. Angelika war meine Trauzeugin, ihr vertraute ich meine Ratten an, mit ihr stahl ich Pferde.

Nach meiner Hochzeit im Frühling 2006 planten mein Mann und ich eine mehrmonatige Hochzeitsreise. Ich freute mich und machte mir gleichzeitig Sorgen. So bat ich Angelika vor der Reise um ein Versprechen: Sie versprach mir hoch und heilig, mit Ehrenwort und so weiter, dass sie sich ganz bestimmt nichts antun würde. Sie versicherte mir, dass sie leben wolle. Versprach mir, sich nicht das Leben zu nehmen.

Trotzdem erarbeiteten wir einen kleinen Notfallplan. Daneben hatte sie meine Handynummer, für sie war ich immer erreichbar (sie für mich auch). Als ich mich von Angelika am Flughafen verabschiedete, ahnte ich nicht, dass ich sie das letzte Mal sehen würde. Bei der Verabschiedung am Flughafen drückte sie mir eine Karte in die Hand, der letzte Satz lautete:

Reflexionen

Einiges haben wir versucht: Angelika versprach mir, am Leben zu bleiben, ein Notfallplan stand fest, therapeutisch war Angelika begleitet, meine Erreichbarkeit war klar signalisiert – doch all diese Massnahmen haben schlussendlich nicht geholfen.

Etwas würde ich heute anders machen: ich hätte heute den Mut, Angelika darum zu bitten, mit ihrer Therapeutin sprechen zu dürfen – oder mit ihr mitzukommen. Ich hätte heute den Mut, diese Person auf die Suizidalität von Angelika anzusprechen und die Menge der verschreibungspflichtigen Medikamente in Frage zu stellen. Gleichzeitig weiss ich aber auch, dass ich unter keinen Umständen hinter Angelikas Rücken gehandelt hätte. Nur mit ihrem Einverständnis wäre ich der Sache nachgegangen. Egal ob im Leben oder bis hin zum Tod bin ich der Überzeugung, dass die Selbstbestimmung und Freiheit jedes Menschen zu akzeptieren und zu wahren ist.

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