Gerne wollte ich Angelika noch einmal sehen. Ihr Gesicht noch einmal betrachten, die Erinnerungen und Momente festhalten. Noch einmal, bevor alles vorbei zu sein schien.
Intuitiv und kognitiv wusste ich, dass es hilfreich für den Trauerprozess ist, die verstorbene Person noch einmal zu sehen. Das Unfassbare wird fassbarer, auch wenn es eine Konfrontation mit der knallharten Realität ist. Es gab aber ein Problem, das zwischen meiner verstorbenen Freundin und mir lag, und es waren nicht die 8407 Kilometer und der Atlantik. Als ich am Telefon gegenüber Angelikas Vater den Wunsch äusserte, sie noch einmal zu sehen, blockte er ab. Seine Stimme veränderte sich, er teilte mir mit, dass „sie nicht mehr so schön aussehe“. Das war mir doch egal! Ich wollte sie noch einmal sehen!
Gleichzeitig spürte ich, dass nun, nachdem sie von mir die nötigen Auskünfte für die Beerdigung (inklusive Gottesdienst) hatten, meine Arbeit getan war. Ich war kein Familienmitglied und war so irgendwie auch nicht mehr erwünscht. Als „Fremde“ eine Person nochmals sehen zu wollen, welche sich das Leben genommen hat, sprengte den Rahmen der familiären Intimität. Der tote Körper schien Familieneigentum.
Die Familie war am Tag der Kremation bei Angelikas totem Körper. Diese Begleitung wurde harmonisch, idyllisch und irgendwie schön dargestellt. Mir verschlug es die Sprache! Ich war so wütend und voll von Vorwürfen (die ich nicht aussprach)! Nun war also die Familie da, jetzt wo sie tot ist! Jetzt wo sich nichts mehr ändern lässt! Jetzt!
Wie häufig wurde über Angelikas psychischen Zustand hinweggesehen? Wie oft wurden ihre Depressionen verleugnet oder verharmlost? Eine Szene ist mir noch in lebhafter Erinnerung: Angelika versucht ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod ihren Eltern mitzuteilen, dass sie Depressionen hat. Die Reaktionen waren einfältig und zurückhaltend, im Sinne von „schlimm hattest du das, aber schön, ist das nun vorbei“. Ja und nun war die Begleitung plötzlich da, zu spät! Dieses Gedankenkarussell drehte in meinem Kopf, am Tag und in der Nacht. Vorwürfe, Trauer, Wut, Anklagen, Bitterkeit, Schuld und vor allem Leere wechselten sich im Sekundentakt ab.
Bis zur Beisetzung in der fernen Schweiz habe ich kaum geschlafen. Wenn ich nun Angelika nicht mehr sehen konnte – warum hätte ich zurückkehren sollen? Warum mich den Menschen, den Fragen, der Trauer und der grossen Leere stellen?
Reflexionen
Vermutlich würde ich heute stärker darauf bestehen, den toten Körper meiner Freundin noch einmal zu sehen. Durch die Distanz blieb der Tod lange fern. Über Wochen rang ich mit der Frage, was nun Realität ist und was nicht und damit, ob Angelika wirklich tot ist. Daraus habe ich für mich, den Pfarralltag und für die Begleitung von Trauernden Konsequenzen gezogen.
Bei Todesfällen, die mir persönlich nahegehen, besuche ich die verstorbene Person noch einmal. Es ist jedes Mal hart und schmerzvoll, den Körper einer geliebten verstorbenen Person vor sich zu haben. Längerfristig und für die Trauerarbeit ist es aber wichtig mit der Realität „Tod“ konfrontiert zu sein. Häufig braucht unser Hirn diese Begegnung, um zu begreifen. Der hebräische Dichter Elazar Benyoëtz beschreibt diesen Prozess mit folgenden Worten: „Was nicht trifft, kommt nicht an“. Einen Tod zu realisieren, braucht Zeit, da werden unsere neuronalen Bahnen plötzlich langsam, umso mehr braucht es Impulse, damit die Realität real wird.
Trauernden empfehle ich die verstorbene Person noch einmal zu sehen. Dies sollte nicht ausschliesslich ein Vorrecht der Familie sein, sondern auch anderen nahestehenden Personen möglich gemacht werden. Wer nicht alleine zur verstorbenen Person gehen mag oder kann, kann jemanden mitnehmen. Es gibt viele Menschen, SeelsorgerInnen, Pfarrpersonen, TrauerbegleiterInnen, usw. die bereit sind mitzukommen, sie müssen einfach gefragt werden.
Diese letzten Besuche sind für mich zusätzlich hilfreich, weil mir im Angesicht des Todes klar wird, dass die Person nicht mehr hier ist. Der Körper, der Leben, Liebe, Aktivität und Ruhe möglich machte, liegt jetzt da als Hülle. Die Person, Psyche, Seele, das, was sie ausmacht, ist weg. In meiner Hoffnung natürlich nicht ganz weg, aber geborgen, aufgehoben und lebendig in dem, was den Menschen übersteigt.