Tanze, als sähe dir niemand zu.
Singe, als könnte dich niemand hören.
Liebe, als seist du nie verletzt worden
Liebe, als sei Himmel auf Erden.
Diese Worte standen auf Angelikas Todesanzeige, die aber wenig mit ihrer Realität zu tun hatten. Ihre Sehnsucht nach Leben kommen darin zum Ausdruck, die Realität des Lebens lehrte sie aber, dass kein Himmel auf Erden ist. Gerade dem Anspruch zu lieben, als wäre sie nie verletzt worden, konnte Angelika nicht genügen. Daran musste sie, daran muss man ja zerbrechen.
In der Spannung zwischen Illusion und Totsächlichem stand dann auch Angelikas Trauerfeier. 12 Tage nach ihrem Suizid fand diese statt. 7 Stunden und 8407 Kilometer trennten mich von der Realität, die ich nicht ertragen konnte, die nicht sein durfte. Die Kirche war voll betroffener junger Menschen, Studierenden, CVJM/F-Leuten und Freunden. Nach und nach über die nächsten Tage, Wochen und Jahre erreichten mich ihre Fragen: „Was war mit Angelika geschehen?“, „War es ein Unfall?“, „Eine plötzliche Krankheit?“. Nach und nach über die Jahre sprach ich aus, was in der Kirche, während der Trauerfeier nicht gesagt wurde: „Es war Suizid, Angelika hat sich das Leben genommen“. Bis ich, ob der Erstarrung der anderen verstummte.
Ich las den Text der Trauerfeier in der Ferne, für mich alleine, immer und immer wieder. Die Spannung zwischen Trost und Empörung zerriss mich innerlich. Wütend und empört war ich über das grosse Schweigen und den harmonischen Lebenslauf. Da wurde nur ein Teil meiner geliebten Freundin beerdigt und nur ein Stück verabschiedet. Im Lebenslauf tauchte zudem die Familie als Zentrum in Angelikas Leben auf.
Doch niemand stand zu ihr und nannte ihre Entscheidung beim Namen! Es war kein Unfall, es war Suizid. Es war ihr letzter Hilferuf, ihre letzte Auflehnung gegen ein Leben, und System, das sie nicht aushielt. Ein letzter Schrei, um ihrer inneren grauen Ohnmacht Ausdruck zu verleihen.
Was ich damals nicht wusste, ist, dass mich die Empörung über das grosse Schweigen noch lange begleiten und das Blut in meinen Adern zum Kochen bringen würde.
Was mich gleichzeitig tröstet, waren einige Worte aus dem Gottesdienst. Es waren Worte, die in der Finsternis des Lebens auf Ewigkeit hoffen liessen. Es war mir damals ein Trost, dass ich hoffen konnte Angelika irgendwann und irgendwo nach meinem Tod wieder zu begegnen. So schrieb ich damals in mein Tagebuch:
„Heute habe ich Angelikas Beerdigung, von XY gelesen. Seine Worte und Gedanken zu Angelikas Leben haben mir gut getan, auch wenn ich die ganze Zeit über geweint habe. Ich denke er hat vieles richtig wiedergegeben, tröstlich und sensibel. Ja gewisse Worte haben mich wirklich getröstet in aller Traurigkeit. Die Worte des ewigen Lebens geben Hoffnung und Trost. Sie sind nicht leer, keine blossen Floskeln, nein sie sind Wirklichkeit inmitten all dem Schmerz und der Dunkelheit. Trotzdem tut es einfach so weh. Der Schmerz über diesen Verlust ist so gross, ist körperlich spürbar, ich weiss nicht, wie ich dem Ausdruck verleihen könnte.“
Doch den stärksten Trost fand ich im Ende der Predigt. Dieses bestand nämlich aus Worten die ich kannte, aus Angelikas Worten. Sieben Monate zuvor hatte Angelika diese Worte an einem Taufgottesdienst den Täuflingen, und heimlich vielleicht noch viel mehr sich selber, zugesprochen:
Und diesen Worten wurde zum Abschluss der Predigt noch folgende hinzugefügt:
„Das isch genau so, Angelika. Niemert nimmt Dir das Rächt!“
Weder Tod noch Leben,
weder Hohes noch Tiefes,
weder Engel noch Mächte
kann Dich scheiden von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Röm 8,38-39)
Amen
Reflexionen
Über Jahrhunderte galt der Suizid als grosse Sünde. Die verstorbenen Personen wurden nicht auf dem Friedhof begraben und es durfte nicht um diese getrauert werden. Dies obwohl die Selbsttötung in der Bibel immer mal wieder vorkommt, aber nicht gewertet wird. Ein Suizid ist schwer zu verarbeiten, doch die „historische Scham“ erschwert den Prozess noch zusätzlich. Angehörige und Trauernde werden gemieden. Manchmal geht das so weit, dass bekannte Personen die Strassenseite wechseln oder vorgeben, einen nicht zu sehen. Gerade deshalb war der Schluss der Predigt für mich so zentral. Niemand kann Angelika oder einem anderen Suizidanten, theologisch gesehen, das Recht verweigern, bei Gott mit allem, was ist und war, angenommen und akzeptiert zu sein. Mir gab das damals Trost, umso mehr, weil die göttliche Annahme auch den Akt der Selbsttötung miteinschliesst. In der Kirche wurde geschwiegen, ein Teil von Angelika hatte keinen Platz, doch in dieser heiligen Annahme darf alles sein.
Trotzdem bin ich bis heute immer noch fassungslos, dass während der Trauerfeier, beim Trauermahl, auf der Todesanzeige und beim Dankesbrief die Wahrheit nie beim Namen genannt wurde. Nie wurde ausgesprochen, dass Angelika das Leben selbst beendet hat. So bleibt bis heute Angelikas Tod für viele nebulös. Nur leise oder gar nicht wird über Angelikas Leben und noch seltener über ihren Tod gesprochen. Einen Suizid beim Namen zu nennen, hat meines Erachtens mit Achtung und Respekt vor der Lebens- und Leidensgeschichte zu tun. Gerade wenn die Realität totsächlich beim Namen genannt wird, bleibt auch die Würde der Verstorbenen gewahrt.
Diese Schweige-Erfahrung hat mich dazu bewogen, im Pfarralltag und im Privatleben einen Suizid niemals zu verschweigen. Die Wahrheit liegt sowieso in der Luft, durch die Tabuisierung jedoch wird der Trauer- und Aktionsradius der Hinterbliebenen massiv eingeschränkt. Und noch etwas habe ich gelernt. Meine Trauer und meinen grossen Verlust durch Angelikas Tod kannten wenige, ich war ja nicht „Familie“. Und doch wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. In meinem Alltag, bei natürlichen Todesursachen und Suiziden, halte ich seit da die Augen offen für die Trauernden, die nicht genannt werden. Die gibt es fast immer. Diejenigen, welche leise und still leiden. Bei einem Suizid noch mehr, gerade auch diese Menschen brauchen Trost und Gehör.