Als wir in New York ins Flugzeug stiegen, begannen sich die Wolken aufzutürmen. Immer dichter wurden sie. Ein grosses Unwetter braute sich zusammen mit böigen Windstössen und wolkenbruchartigem Regen- und Hagelschauer. Der Flug verlief in einem stürmischen Auf und Ab, einem Tornado der Gefühle.
Niemand im Flugzeug bemerkte diesen Sturm, da er sich ja in meinem Inneren abspielte. Was für die anderen Passagiere ein ruhiger Flug mit sanfter Landung war, endete für mich als Bruchlandung in der Schweiz. Wieder in Zürich angekommen, überrollte mich dich Realität von Angelikas Suizid wie eine Flutwelle.
Eigentlich wollte ich gleich nach meiner Rückkehr mein Studium wieder aufnehmen. Geplant war gewesen, dass Angelika und ich je die Lizenziatsarbeit schreiben und daneben auf die Abschlussprüfungen lernen. Wir hatten geplant, in spätestens einem Jahr mit allem fertig zu sein und dann gemeinsam ins Vikariat zu gehen. Auch die Vikariatsgemeinden hatten wir so ausgesucht, dass wir nahe beieinander sind und uns gut treffen können.
Jetzt aber war alles anders, als wir es geplant hatten – es gab kein „wir“ mehr!
Das Studium, die Theologie, die Universität selbst, alles wurde mir unerträglich. Ich konnte mich nicht konzentrieren, wollte nichts mehr vom Studium wissen und mied die Fakultät. Ein unsichtbarer Wall stand zwischen mir und Zürich, zwischen mir und der theologischen Fakultät und zwischen mir und der Theologie. Nach Zürich zu gehen, war so unerträglich und mit so vielen schmerzlichen Erinnerungen und verlorenen Zukunftsträumen verbunden, dass es einfach nicht mehr ging.
Orientierungs- und haltlos stolperte ich durch die Tage und Wochen. Eine gähnende Leere blieb in mir zurück, welche mich vom Leben und von den Menschen abzuschneiden schien. Die nötigsten Tätigkeiten führte ich wie ein Roboter aus, so auch meine Teilzeitjobs als Lehrerin und Putzfrau.
Doch meine Gedanken kreisten nur noch um meine verstorbene Freundin. Meinem Tagebuch vertraute ich folgende Worte an: „Seit Angelikas Beerdigung habe ich das Gefühl, dass alles vorbei ist. Irgendwie ist es fertig. Nichts bleibt mehr, ausser ein paar blassen Erinnerungen, wenigen Fotos…alles ist vorbei. Es gibt kein Sehen, kein Anfassen und keine Gespräche mehr. Was bleibt, ist ein wenig Asche und einige gemahlene Knochen, nichts mehr von dem geliebten Menschen. Das ist grausam. Es ist so und ich will nicht, dass es so ist. Ich ertrage es nicht. Warum nur?! Schreit es immer und immer wieder in mir. Ich will nicht ohne dich leben. Kannst du hören oder sehen wie verzweifelt und traurig ich bin, dass du gegangen bist? Freiwillig gegangen!“
Auch ich wollte nicht mehr leben, einfach nicht mehr sein, um meine Trauer nicht mehr aushalten zu müssen. Alles, was mir früher wichtig war, Kirche, Jugendarbeit, Freunde, Studium, Jobs und Hobbies, verlor an Bedeutung.
Reflexion
In Anbetracht von Angelikas Suizid machte mein Leben auch keinen Sinn mehr. Trauer, Wut, Scham und Verzweiflung darüber, dass ich sie nicht von ihrer Selbsttötung abzuhalten vermocht habe, engten mein Blickfeld ein. Vor Angelikas Suizid war mein Leben mit vielen sinnstiftenden Elementen und Aktivitäten angefüllt, doch all das verlor gänzlich an Bedeutung. Erst viel später habe ich durch Fachartikel erfahren, dass das Suizidrisiko bei Hinterbliebenen erheblich erhöht ist. Das spürte ich auch an mir. Es wäre sicher hilfreich gewesen, wenn ich Kontakt zu anderen Betroffen gehabt hätte. Wenn ich mich über diese Gefühle und Gedanken hätte austauschen können. Doch ich kam damals nicht auf die Idee, mich bezüglich solcher Möglichkeiten zu informieren. So blieb ich alleine mit diesen Gedanken und Gefühlen. Diesen Sommer, während ich mich auf diesen Blog vorbereitete, bin ich nun auf fachlich und menschlich tolle Möglichkeiten für Hinterbliebene gestossen. So weise ich an dieser Stelle gerne auf die Angebote von Nebelmeer, Trauernetz und Verein Refugium hin. Etwas eingehender beschrieben werden die Fachstellen hier.