Wie bereits im Beitrag #8 „Die Bruchlandung“ angedeutet, war es mir nach Angelikas Suizid nicht mehr möglich das Studium wieder aufzunehmen. Mein Leben ergab keinen Sinn mehr, warum sollte da ein Studium noch von Bedeutung sein?
Doch viel mehr als die Sinnlosigkeit konnte ich es nicht ertragen, dass aus „unserem“ Studium und „unseren“ Plänen „mein“ Studium und „meine“ Pläne werden sollten. Weder Vernunft, noch Disziplin brachten mich dazu in den Zug zu steigen und nach Zürich an die Theologische Fakultät zu fahren.
Meine Angst, von den Erinnerungen überrollt zu werden und den Schmerz nicht ertragen zu können, war zu gross. Mehr als vier Jahre hatten wir zusammen studiert und so war jeder Winkel der Fakultät mit Erinnerungen behaftet. Im „Sternchensaal“ hatten wir das Hebräisch durchgestanden und ins Schofar geblasen, im Raum 108 Teile des Neuen Testaments und Griechische Philosophen übersetzt und im Foyer mit Gläsern voll Wein versucht Descartes, Augustinus und Leibniz zu verstehen. Wir haben an allen Ecken und Enden zusammen gelernt, gegessen und Kaffee getrunken und kaum ein Aufenthalt an der Fakultät verlief ohne ein gemeinsames Turnier am Jöggeli-Kasten. Über die Jahre waren wir ein fast unschlagbares Jöggeli-Team geworden. Angelika im Sturm und ich im Tor: so trugen wir viele Siege davon. Die Rollenverteilung beim Tischfussball war gerade umgekehrt als sonst im Leben. All dies und noch viel mehr kam mir augenblicklich in den Sinn, wenn ich nur daran dachte, nach Zürich zu fahren. Intuitiv wusste ich, dass ich wohl spätestens beim Jöggeli-Kasten im Foyer zusammenbrechen würde. Eigentlich hatte ich ja noch ein heimliches Hochzeitsgeschenk von Angelika zu Gute – nach unserer Hochzeitsreise sollte ein Jöggeli-Kasten für uns bereitstehen. Dazu kam es nicht mehr. Der Jöggeli-Kasten wurde zu einem Inbegriff unerfüllter Wünsche und Versprechungen und zum Symbol unserer, am Suizid zerbrochene, Freundschaft. Was ich damals noch nicht wusste: ich sollte für viele Jahre keinen Jöggeli-Kasten mehr anfassen – ich mied dieses Spielgerät, „wie der Teufel das Weihwasser“. Jeglichen Erinnerungen an unser Studium ging ich aus dem Weg – doch den Erinnerungen in meinem Alltag, der zeitlichen und emotionalen Leere, welche diese Freundschaft hinterliess, konnte ich nicht entgehen. Dabei kam mir einmal aus Versehen ein Foto von meiner Freundin in die Hände. Wie vom Blitz getroffen starrte ich auf das Bild und erstarrte. Ab diesem Zeitpunkt bemühte ich mich darum, Bilder, Gegenstände und sogar den Namen meiner Freundin zu meiden. Die Erinnerungen mussten weg – so als wären sie nie gewesen.
Reflexion
Beim Verlust eines nahestehenden Menschen werden plötzlich Orte, Gerüche, Gegenstände und Tätigkeiten emotions- und bedeutungsgeladen. Aus einem lebendigen Ort, wie der Universität, kann ein Un-Ort werden. Tätigkeiten wie lernen, Kaffee trinken und ein Jöggeli-Turnier spielen, können zu einem Minenfeld von erdrückenden Erinnerungen werden. So erging es mir. Tätigkeiten und Orte waren nach dem Suizid so mit Angelika verbunden, dass es mir nicht mehr möglich war, diese auszuführen oder mich an diesen aufzuhalten. Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende in lauter Erinnerungen und je mehr diese mit physischen Orten, Gerüchen und Tätigkeiten verbunden war, desto mehr stand mir das Wasser bis zum Hals. Für die „Aussenwelt“ ist dieses Verhalten manchmal schwierig nachvollziehbar, aber Trauernde kennen Trigger-Orte. Diese zumindest in den ersten Monaten zu meiden ist nicht falsch. Das Ringen mit der Realität des Suizids, mit der Trauer, dem Verlust, der Wut, der Schuld, der Liebe und dem Hass nimmt schon genug Raum ein. Wenn vertraute Orte zu Un-Orten werden, war es für mich hilfreich neue Sicherheitsräume aufzubauen und neue Gebiete zu erschliessen. Das Minenfeld bleibt liegen, dem kann auch später begegnet werden, aber einen kleinen Lebensraum mit neuen und sichere Orten aufzubauen kann hilfreich sein. Ich selber habe diesen Ort unter anderem auf dem Bauernhof gefunden, aber mehr dazu im nächsten Beitrag.