Bis ich mich überwinden konnte an Angelikas Grab zu gehen vergingen einige Wochen. Ich konnte und wollte ihr Grab nicht sehen, ich wollte der Realität immer noch nicht in die Augen schauen und vor allem wollte ich nicht an ihren Wohnort zurückkehren. Doch irgendwann überwand ich mich und machte mich bereit auf den Friedhof zu gehen. Mein Partner begleitete mich. Nach dem Besuch entstand folgender Tagebucheintrag:
„Ich war gestern mit Andi auf dem Friedhof. Es hat lange gedauert bis wir Angelikas Grab gefunden haben. Erst beim dritten Mal absuchen des ganzen Friedhofs sind wir auf ihr Grab gestossen.
Ich wollte gestern unbedingt zu ihrem Grab, vielleicht würde das meine Unruhe etwas besänftigen. Und ich war bereit dorthin zu gehen.
Als wir das Grab nicht fanden, habe ich zu Gott gefleht er möge es uns doch zeigen. Endlich standen wir dann davor.
Es ist kein normales Grab, mit einem kleinen viereckigen Gärtchen. Nein ihr Grab befindet sich unter einem Ahornbaum, ohne feste Grenze. Zwei Rosenbäumchen stehen darauf, einige Schalen. Ich glaube dieser Platz, da unter dem Ahornbaum würde Angelika gefallen. Es ist ein friedlicher, sonniger und liebevoll gewählter Ort.
Als ich so vor ihrem Grab stand, die Rosenbäumchen und Kerzen anschaute und das weisse Schild mit den Worten: „Hier ruht Angelika 1980-2006“ las, sträubte sich alles in mir. Ich sah und wusste doch nicht, ob ich sehen möchte.
Die Worte „hier ruht“ sind auf jeden Fall falsch gewählt. Ich glaube nicht daran, dass auch nur ein Mensch auf dem ganzen Friedhof wirklich dort ruht. Treffender wäre „In Erinnerung an“ oder „Im Gedenken an“. Doch was solls, es ändert an der Tatsache ihres Todes auch nichts.
Ich stand also mit Andi vor dem Grab, lange standen wir nur da, schweigend. Ich konnte es nicht fassen. Es tut so weh. Immer und immer wieder habe ich das weisse Täfelchen mit „Hier ruht Angelika 1980-2006“, gelesen. Als könnte es sich verändern. Als könnte ich es auch nach dem 20igsten Mal lesen nicht fassen. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, es zum ersten Mal zu sehen.
Blätter wehten vom Baum auf ihr Grab, die Sonne wärmte uns trotz der kalten Novemberluft.
Ich konnte nichts mehr sagen. Nur noch weinen und schluchzen. So als könnte ich nie mehr aufhören, so als bestünde mein Leben nur noch aus Trauer. Irgendwann konnte ich kaum mehr stehen, ich wollte auch nicht mehr. So bin ich beim Grab auf die Knie gegangen. Bin einfach so auf den Knien beim Rosenbäumchen gesessen. Ich habe die Blätter auf dem Grab etwas zur Seite geräumt, die Karte vom Bryce Canyon und die kleine rosarote Blume aufgestellt und geweint. Ich habe keine Ahnung mehr wie lange ich auf dem Grab gekniet bin.
Andi stand dort vor dem Grab, auch er weinte.
Doch in diesen Momenten konnte ich selbst seine Berührungen nicht ertragen. Nichts konnte mich trösten. Auch jetzt noch fühle ich mich untröstlich.
Warum hast du mich verlassen? Warum konntest du all die Liebe nicht sehen? Warum hast du dir keine Hilfe gesucht? Warum hast du nichts gesagt?
So drehten sich die Gedanken in meinem Kopf. Irgendwann kam mir Angelikas Lieblingspsalm in den Sinn. Psalm 63, „Gott du bist mein Gott den ich suche. Meine Seele dürstet nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir, aus trockenem dürren Land, wo kein Wasser ist.“ Leise habe ich den Psalm vor mich hingesagt. Dabei dachte ich mir: „Angelika dürstet nicht mehr, ihr Lieblingspsalm hat sich erfüllt, sie ist bei Gott und ihr Durst wurde gestillt. Nichts und niemand kann dies jetzt noch ändern oder sie aus der Gegenwart Gottes reissen.“ So sass ich da, betete, schrie und schluchzte zu Gott. Langsam versiegten meine Tränen, langsam konnte ich mich etwas beruhigen und auch mein Atem wurde ruhiger. Gott war nahe, ja, irgendwie da.
Und doch, Angelika, du fehlst mir so, es gibt ausser im Schlaf, kaum Augenblicke, in denen ich dich nicht vermisse und an dich denke. Ich fühle mich, als gehörte ich seit deinem Tod weder zu den Lebenden noch zu den Toten. Ich bin irgendwo in einer Zwischenwelt und kann weder am Leben noch am Tod Anteil haben.
Ich kann kaum mit anderen lachen, habe keinen Anteil am Leben und begegne auch kaum Menschen. Ich lebe und fühle mich innerlich so tot. Alles was ich kann ist dasitzen und weinen. Ich will weder das Leben noch den Tod wahrhaben. Was bleibt da?“
Reflexion
Zum ersten Mal am Grab zu stehen, das Schild mit ihrem Namen darauf zu sehen, war ein Schock für mich. Nun hatte mich die ganze Realität ihres Todes eingeholt. Nun gab es kein geheimes Wünschen mehr, dass sie doch noch lebt. Nein schwarz auf weiss stand ihr Name auf dem Täfelchen. Wer einen Menschen durch Suizid verloren hat, stellt die Realität des Todes immer wieder in Frage. Das Erfassen und Fassen des Todes ist ein Prozess. Bei mir dauerte das länger und wurde erst zur endgültigen Realität und wirklich fassbar, als ich vor dem Grab stand. Wie schon in einem der ersten Beiträge erwähnt, kann es hilfreich sein die verstorbene Person nochmals zu sehen. So wird fassbar, was tatsächlich ist. So wird der Tod des geliebten Menschen real. Erst dann werden weitere Schritte auf dem Trauerweg möglich. Trauern braucht Realisierung, braucht Konfrontation mit der Realität – zumindest bei mir war dies der Fall.