Was würde geschehen, wenn Luther und Zwingli sich heute begegnen würden? Würden sie wohl immer noch über die Unterschiede im Abendmahlsverständnis streiten und theologische Differenzen debattieren? Oder würden sie in ihrer Unterschiedlichkeit eine Ergänzung erkennen?
Die vielleicht grössten Unterschiede zwischen Luther und Zwingli waren weniger theologische und ideologische, sondern vielmehr atmosphärische. Dies zeigt sich beispielsweise in den unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Übersetzung der Bibel. Während Luther sprachmächtig die Bibel alleine, in seiner Kammer übersetzte, entstand die Zürcher Bibel als Werk eines Teams in der Öffentlichkeit. So wurde im Juni 1525 im Chor des Grossmünsters in Zürich die „Prophezei“ ins Leben gerufen. Von da an wurde im Grossmünster jeden Morgen, Freitag und Sonntag ausgenommen, die Bibel übersetzt, diskutiert und so theologisch gearbeitet.
Während Luthers klare, messerscharfe Worte kaum zu übertreffen sind, zeichnet sich die Übersetzung der Zürcher Bibel durch Vielsprachigkeit aus.
Das Proprium der reformierten Perspektive ist ihre Vielfältigkeit und Vielsprachigkeit. Dies beinhaltet jedoch immer auch eine gewisse Unschärfe. Zur reformierten Identität gehört es, mit Unklarheit und Unschärfe umzugehen und in der Vielzahl der teilweise unharmonischen Gesänge dennoch die Melodie des Evangeliums zu erkennen.
Sowohl Luther, als auch Zwingli hatten jedoch, mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen, ein gemeinsames Anliegen. Ihr Ziel war nicht die Herrschaft und alleinige Definitionsmacht über das Wort, sondern das Evangelium sollte nahbar und verständlich werden für ganz normale Menschen. Das Ziel der Reformatoren war nicht eine Klerikalisierung, Akademisierung und Verklärung von Theologie. Ziel war eine theologische Ermutigung von ganz normalen Frauen und Männern. Laien sollten theologisch sprachfähig werden, sich über das Wort Gottes unterhalten können und so das Evangelium in ihrem Alltag, im Lieben, Streiten, Handeln, Leiden, in Not, Freude, Trauer, Hass, Verlust, Wut und Glück lebendig werden lassen.
So hoffe ich, dass wir in den Reformationsfeierlichkeiten nicht wehmütig zurückschauen auf Vergangenes und im Blick auf Luther und Zwingli Helden glorifizieren. Mein Wunsch wäre es, dass wir uns dem Ringen der Reformatoren anschliessen, gemeinsam als Evangelische Kirchen ehrlich darum ringen sprachfähiger zu werden in einer pluralistischen Gesellschaft. Denn die heutige postmoderne Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht mehr nur eine Sprache des Volkes gibt, die alle verstehen. Stattdessen sind es viele verschiedene Sprachen, in die es das Evangelium zu übersetzen gilt. Um dieser Herausforderung zu begegnen da braucht es beides: Lutherische Klarheit und Reformierte Vielstimmigkeit.