Die Weihnachtstage waren vorbei und das neue Jahr brach bald an. Das erste Mal seit 10 Jahren wollte ich nicht über Neujahr in das Lager der Kirche gehen. Normalerweise liebte ich das Neujahrslager, ich kannte fast alle der über 100 Teilnehmenden und war vor Angelikas Tod ein fester Teil dieser christlichen Gemeinschaft gewesen. Doch seit Angelikas Tod hatte sich vieles verändert. Ich fühlte mich nicht mehr als Teil dieser Gemeinschaft. Grössere Menschenansammlungen erschreckten mich. Unter Menschen fühlte ich mich noch einsamer und die Lücke, welche Angelika hinterlassen hatte, wurde mir noch schmerzlicher bewusst. Von den Leuten des Cevi fühlte ich mich nicht verstanden, sondern entfremdet. Zudem waren all die Kirchenlieder und Worship-Songs nur noch eine Farce für mich. Wie konnte ich „Grosser Gott wir loben dich“ oder „I will praise you in my darkest hour“ singen und ganz anders empfinden. Nein, all die Lieder wollte ich nicht mehr in den Mund nehmen. Sie waren kein Trost, sondern mutierten zu reinen Provokationen in meinem Leben.
So blieb ich zu Hause, wollte den Jahresübergang von 2006 zu 2007 nicht feiern, keine Menschen sehen und nicht wieder die fröhliche „Weihnachtsmaske“ anziehen müssen. Ich wusste auch nicht was ich zu feiern gehabt hätte, denn in mir blieb nur dieser Leere zurück. Der Verlust von Angelika war das Einzige was ich noch sehen konnte, das Einzige was zählte. Alles andere verlor ganz und gar an Bedeutung in meinem Leben. Auch die Menschen, die mir lieb waren, die versuchten mich zu verstehen, wie mein Mann und meine langjährige WG-Freundin, nahm ich nicht mehr richtig wahr. Sie konnten nicht mehr zu mir durchdringen. Wie eine Kluft umschloss mich die Leerstelle, die Angelika in meinem Leben hinterlassen hatte. Es war still um mich herum und alles Leben wurde von dieser tiefen Leere verschluckt. Ich war nicht in der Lage über diesen scheinbar unüberwindlichen Graben Brücken zu schlagen.
So gerne hätte ich mehr Lebenszeit mit Angelika geteilt. In meinem Tagebuch betrauerte ich die gestohlene Zeit:
„Ich hätte mir mehr Zeit, mehr Gespräche, mehr Erlebnisse mit dir gewünscht. Hättest du dir nicht mehr gewünscht? Angelika warum hast du mich allein gelassen schreit es immer und immer wieder in mir.“
Sie hatte mich und uns um die gemeinsamen Träume, um die gemeinsame Zeit betrogen und in meiner Wahrnehmung blieb ein Nichts zurück.
Reflexion
Wie anhand meines Lebens aufgezeigt kann bei Hinterbliebenen eines Suizids das Gefühl der Leere überwältigend werden. Das Leben, die Freundschaften und geliebten Menschen, das Schöne konnte ich nicht mehr schmecken, sehen und hören. Ich trauerte, nicht nur um Angelika, sondern auch um unsere verlorene Zeit und die zerstörten Träume. Im Angesicht eines Suizides wird auch das eigene Leben in Frage gestellt. Mehr als bei anderen Todesursuchen hinterlässt ein Suizid das Gefühl, dass die verstorbene Person die gemeinsamen Träume absichtlich zerstört und die Zeit geraubt hat. Doch zu diesem Zeitpunkt verlief auch diese Wut noch im Gefühl der Leere, doch das sollte sich in den nächsten Monaten noch ändern.
Mir war es damals nicht möglich Brücken zu bauen zu anderen Menschen hin, aber unerschrockene BrückenbauerInnen hätten vielleicht eine Chance gehabt zu mir zu gelangen. Niemand konnte zu dieser Zeit die Leerstelle ausfüllen, aber es war hilfreich, wenn sich jemand darum bemühte meinen Alltag mit Leben zu füllen und vor meiner manchmal abweisenden Art nicht zurückschreckte. Es ist wesentlich, dass die Trauer und Leere der Hinterbliebenen akzeptiert wird. Genauso wichtig ist es aber auch kleine Brücken der Hoffnung zu der trauernden Person hin zu bauen: ein kurzer Besuch, ein Stück Kuchen, ein nettes Wort, ein Kärtchen, ein Lächeln, eine Unternehmung, ein Zeichen der Freundschaft, ein gemeinsames Glas Wein, eine Lerngruppe, ein Telefongespräch, eine Umarmung, ein offenes Ohr, der Link zu einer Fachperson, Farben und Papier, Kaffee, und vieles mehr… Es braucht nicht viel, um mit dem Bau der Brücke zu beginnen, nur etwas Mut, doch jeder Stein kann viel bewirken.