Wie im vorherigen Beitrag beschrieben willigte ich etwas zögerlich in den Vorschlag meines kirchlichen Mentors ein, mit ihm zusammen nach Zürich an die theologische Fakultät zu gehen. Es beruhigte mich, dass ich wusste, dass Peter schon öfter mit Hinterbliebenen eines Suizids, die Orte besuchte, welche zu inneren Sperrzonen wurden.
Wir besprachen vorab, welche Orte wir gemeinsam besuchen werden und wir vereinbarten einen Zeitrahmen. Mein Mentor erklärte mir detailliert, wie er solche „Besuche“ gestaltet. Er erklärte mir, dass wir immer wieder Pausen machen und an den einzelnen Orten verweilen werden. Dass er jeweils wissen wolle, wie es mir geht und je nachdem auch nach spezifischen Erinnerungen fragen werde. Zwischen dem ersten Gespräch und dem geplanten Besuch der Sperrzonen lag eine Woche. Während dieser Woche bereute ich die Abmachung immer wieder. Ich zweifelte an der Aktion, wollte mich gerne mit meiner Angst verkriechen, aber sicher nicht mit ihr konfrontiert werden. Doch glücklicherweise verhinderten mein Stolz und meine Sturheit, dass ich den Termin mit Peter absagte. Zudem hatten mich seine ruhige und kompetente Art überzeugt und ich traute ihm zu, die Situation im Griff zu haben.
So trafen wir uns eine Woche später um 10.00 Uhr am Bahnhof in Wetzikon und nahmen die S5 Richtung Zürich Stadelhofen. Im Zug sprachen wir zuerst über Belangloses, dann erklärte er mir nochmals den Ablauf des Besuches. Wir planten vom Bahnhof Stadelhofen zur theologischen Fakultät im Grossmünster zu spazieren. Da wollten wir bestimmte Orte und Räume zusammen besuchen und uns im Aufenthaltsraum etwas mehr Zeit nehmen. Abschliessen wollten wird den Besuch an der Florhofgasse, wo damals die Praktische Theologie untergebracht war. Glücklicherweise war es ein sonniger Tag und so stiegen wir am Bahnhof Stadelhofen aus und setzten uns zuerst auf eine Bank. Mir war übel vor Nervosität, Angst oder wovor auch immer. Doch während wir so auf der Bank sassen und ich Peter zeigen konnte, wo Angelika und ich uns immer getroffen hatten, wurde es besser. Der Bahnhof war plötzlich nicht mehr furchteinflössend, sondern wurde wieder zu einem belebten Raum mit einem regen Kommen und Gehen. Nach ein paar Minuten machten wir uns auf und spazierten zur theologischen Fakultät.
Auf dem Weg dorthin wollte Peter etwas näher wissen, was die Freundschaft zu Angelika auszeichnete, was uns verband, was wir auch ausserhalb der Universität gemeinsam erlebt hatten. Ich erzählte ihm von unserer WG-Zeit, von den nächtlichen Joggingtouren auf den Bachtel und von den Höhen und Tiefen unserer Freundschaft. Auch Angelikas psychische Probleme, ihr schlechtes Selbstbild und meine ständige Angst vor einem Suizid kamen zur Sprache. In der Fakultät angekommen gingen wir zuerst in den Raum wo ich Angelika im Hebräischunterricht kennen gelernt hatte. In diesem Raum erzählte ich Peter von den Anfängen unserer Freundschaft. Ich beschrieb ihm, wie mir diese schüchterne und sympathische Person aufgefallen war und wie ich sie fragte, ob wir nicht zusammen lernen wollten. Es war wohl das erste Mal seit Angelikas Suizid, dass mich die Erinnerungen nicht nur traurig machten, sondern dass ich mich an ihnen auch ein bisschen freuen konnte. Peter und ich gingen weiter in andere Seminarräume, in die Bibliothek, in den zweiten Stock, dann in den dritten, bis wir im Aufenthaltsraum standen. Alles schien noch gleich zu sein. Die Tische, das Chaos um die Spüle, der Kühlschrank und etwas weiter hinten der Jöggelikasten. Beim Anblick des Jöggelikastens erstarrte ich innerlich. Wie sehr hatten wir dieses Ding geliebt. Wir waren ein super Team gewesen, fast schon unschlagbar. Peter und ich setzten uns. Zögernd erzählte ich ihm von diesem Raum und von den vielen Erinnerungen. Es war seltsam da zu sitzen, der Raum sah gleich aus und doch fühlte sich alles anders an. Nach längerer Zeit nahmen wir die letzte Etappe unseres Besuchs in Angriff, die Florhofgasse. Aber nachdem ich den Aufenthaltsraum „überlebt“ hatte war auch die letzte Station kein Problem mehr.
Es war ein intensiver Morgen, viele Erinnerungen und Emotionen wurden wachgerüttelt und kamen hoch. Doch es hatte sich gelohnt. Ich wusste, dass ich wieder in der Lage sein würde mein Studium aufzunehmen. Nach mehr als zwei Stunden kehrten Peter und ich zum Bahnhof zurück, wo wir auf den Besuch zurückblickten und sich unsere Wege bzw. Züge trennten.
Reflexion
Nicht alle Trauernden schützen sich vor ihren Erinnerungen und Gefühlen mit geographischen Sperrzonen. Manche machen das, andere wiederum errichten Sperrzonen indem sie gewisse Tätigkeiten nicht mehr ausüben oder erinnerungsbeladenen Gegenstände nicht mehr ansehen und anfassen. Sich gegenständlichen und örtlichen Sperrzonen anzunähern ist ein wichtiger Schritt im Trauerprozess. Es ist eine Aktion, die zurück ins Leben führt. Kompetente, sensible Freunde / Pfarrpersonen oder andere Fachpersonen können dabei unglaublich hilfreich sein. Sie selbst sind von der Furcht und Trauer nicht gefangen und können von den Emotionen nicht einfach überwältigt werden. Zentral bei einer solchen Begleitung ist für die Fachperson die Aussenperspektive auf die Situation (oder die Orte) zu wahren und gleichzeitig um die innere Verfasstheit der trauernden Person zu wissen. „Under control“ sein, heisst hier empathisch die Fäden von Emotionen, Erinnerungen, Orten, Tätigkeiten und Gegenständen zusammen zu bringen, ohne die trauernde Person zu überfordern. Wenn dies gelingt, können Ängste abgebaut und Sperrzonen wieder zu Lebensräumen werden.