Dinah Stampfli
Es ist Freitagnachmittag, ich sitze neben meinem Universitätsgebäude und esse mein Mittagessen. Als Theologiestudierende habe ich das grosse Glück, dass die theologische Fakultät sich sozusagen in einem Gebäude mit dem wunderschönen Grossmünster von Zürich befindet. Das Grossmünster befindet sich im «Niederdörfli» und erfreut sich vielen Touristen, nicht nur weil es aufgrund der Geschichte Zwinglis ein historischer Ort ist, sondern auch, weil die Kirche selbst ein wunderschönes Bauwerk ist. Ich beobachte die Leute, die im Grossmünster ein- und ausgehen und unzählige Fotos mit ihren Smartphones machen. Viele Touristengruppen folgen ihrem Leiter, bei dem sie wohl eine Führung durch die Stadt Zürich gebucht haben.

Ich versuche, meine Beobachtungen auf meinem Notizblock festzuhalten, aber irgendwie kommt mir nichts in den Sinn, denn fast alle machen das gleiche: Sie stehen vor dem Grossmünster, hören ihrem Tourguide zu, schiessen Fotos und Selfies und verschwinden dann im grosszügigen Inneren der Kirche. Viel faszinierender als die Aktivität der Touristen finde ich jedoch ihre Herkunft. Ich versuche herauszufinden, von welchen Ländern die verschiedenen Gruppen kommen, was jedoch nicht so einfach ist. Während meiner Beobachtung erkenne ich eine Gruppe deutscher Touristen, eine Gruppe, in der der grösste Teil wohl muslimisch ist und eine Gruppe Menschen aus Indien, in welcher wohl viele dem Hinduismus angehören. Unter den vielen Touristen, die das Grossmünster besuchen, sind bestimmt alle 5 Weltreligionen vertreten. Trotz der vielen Unterschiede in Glaubensinhalten und Traditionen, haben die 5 grossen Weltreligionen einen gemeinsamen Nenner: der Glaube an eine Gottheit, an das Gute und an den Frieden. Da die Religionen früher einen sehr grossen Stellenwert hatten, sind ihre Bauwerke und ihr Einfluss in grossen Städten nicht zu übersehen.
Fragwürdig ist jedoch, ob der Einfluss der Religionen, die auch heute noch sehr präsent sind, in der Stadt zu spüren ist. In der Stadt Zürich ist mit 36.4% zwar der grösste Teil der Bevölkerung konfessionslos, was aber bedeutet, dass trotzdem 63.6% der Bewohner einer Religion angehören. Wo lässt sich dieser Frieden und der Glaube in das Gute im urbanen Raum finden? Die Stadt verspricht Unabhängigkeit, Individualität und Anonymität. Dieses Versprechen klingt für viele zwar erstmals verlockend, doch es hat seinen Preis: Gemeinschaft und Frieden kommen oft viel zu kurz. Das Resultat ist eine gewisse Isolation, die besonders schmerzvoll und gefährlich für die Psyche sein kann. Es ist das eine, ein Bergbauer zu sein, der einsam in seiner Hütte sitzt. Es ist etwas ganz anderes, täglich an tausenden von Menschen vorbeizukommen und sich doch vollkommen allein zu fühlen. Für viele Stadtbewohnende bieten Kirchen oder andere religiöse Räume eine Möglichkeit, dem Trubel der Stadt zu entkommen, Ruhe zu finden und Gemeinschaft zu pflegen. Gerade hier wird die Aufgabe der urbanen Theologie gut ersichtlich.
Der Mensch in der Stadt trägt die für den urbanen Raum typische Spannung demnach in sich. Genauso wie alt und jung, arm und reich und die vielen verschiedenen Ethnien und Religionen in der Stadt zusammenleben, leben der Wunsch nach Unabhängigkeit und Anonymität neben dem Wunsch nach Gemeinschaft im Menschen zusammen. Ich betrachte es als eine wichtige Aufgabe der urbanen Theologie, diese Spannung im Stadtmenschen wahrzunehmen, zu untersuchen und eventuell auch zu lindern.